“Corona schärft den Blick auf die Lungenforschung”

Prof. Dr. Werner Seeger, Ärztlicher Geschäftsführer des Universitätsklinikums Gießen und Marburg spricht über seine Erfahrungen aus der Corona-Pandemie, über die Bedeutung der Lungenforschung sowie über das Potenzial der Digitalisierung und Künstlichen Intelligenz für die Zukunft der Medizin am UKGM. 

Prof. Werner Seeger – Ärztlicher Geschäftsführer am Standort Gießen (Stv. Vorsitzender der Geschäftsführung)

Interview von Marc Schäfer.

Welche Learnings haben Sie am UKGM aus der Corona-Pandemie gezogen?

Prof. Werner Seeger: Auf der positiven Erfahrungsseite steht zunächst einmal die beruhigende Erkenntnis, dass in einer solchen Krisensituation der allergrößte Teil der Mitarbeiter bereit ist, sich sogar unter Inkaufnahme persönlicher Risiken in hohem Maße für die Bewältigung der anstehenden Probleme zu engagieren. Die Nutzung dieses „menschlichen Reservepotenzials“ war die wichtigste Voraussetzung dafür, die Klinik vielfach im Hinblick auf wechselnde Anforderungen umzugestalten und in kürzester Zeit völlig neue Arbeitsabläufe zu etablieren. Äußerst positiv war auch die Bereitschaft aller 17 Krankenhäuser in der von mir geleiteten Koordinationsregion Mittelhessen, sich in eine gemeinsame Bewältigungsstrategie einzuordnen, unabhängig von der jeweiligen Krankenhausträgerstruktur. Dieses betraf zum Beispiel die Weiterverlegung der kritischsten Patienten in die beiden Häuser der Maximalversorgung, UKGM und die Kerckhoff-Klinik, jedoch ebenfalls die gegenseitige Unterstützung mit verschiedenen Materialien in kritischen Engpasssituationen. Zu der negativen Erfahrungsseite zählt in allererster Linie die Erkenntnis, dass wir sehr kritisch abhängig sind von Materiallieferungen aus dem Ausland, zum Beispiel was Masken, Kittel und weitere Schutzmaterialien betrifft, und nicht einmal autonom über einige Monate bei Zusammenbrechen dieser Versorgungsstrukturen weiterarbeiten können. In gemeinsamer maximaler Anstrengung mit dem Land Hessen, Nutzung verschiedener industrieller Kontakte und auch der Bereitschaft kleinerer und mittlerer Firmen, akut zur Lösung dieser Engpasssituation beizutragen, ist es zwar gelungen, ausreichend Materialien zur Versorgung der Patienten auch in dieser Phase aufzutreiben, aber hier muss in Zukunft in jedem Fall eine verbesserte und von internationalen Lieferketten unabhängige Versorgungssicherheit aufgebaut werden.

Wie hat Corona Ihren Blick auf die Lungenforschung verändert?

Prof. Werner Seeger: Es ist noch einmal deutlicher geworden, welcher immense Nachholbedarf an Lungenforschung national und international besteht. Auch für die Zukunft wird gelten, dass luftgetragene Infektionen, welche dann natürlich vorrangig die Lunge betreffen, die größte internationale Bedrohung im Sinne einer Pandemie darstellen, da sie im Gegensatz zu anders getragenen Infektionen (Wasserverunreinigung, Sexualkontakte etc.) eben niemals komplett beherrschbar sein werden. Da Impfungen, so sie denn gelingen (hoffentlich im Fall von Corona!), immer erst im Nachhinein entwickelt werden können, ist es von fundamentaler Bedeutung, die Immunologie der Lunge, d.h. die spezielle und komplexe Keimabwehrfunktion dieses Organs, besser zu verstehen, um durch neue therapeutische Ansätze zur Optimierung dieser pulmonalen Immunabwehr auch für zukünftige über die Luft verbreitete Erreger besser gerüstet zu sein. Vor diesem Hintergrund kann man es geradezu als weise Voraussicht bezeichnen, dass das Land Hessen zusammen mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und der Justus-Liebig Universität vor kurzem beschlossen hat, an dem von mir und Herrn Kollegen Grimminger geleiteten Lungenschwerpunkt in Gießen/Bad Nauheim ein zusätzliches Institut einzurichten, nämlich das Institut für Lungengesundheit (ILH), welches genau diese Thematik zum Schwerpunkt hat und sich gegenwärtig im Aufbau befindet.

Wie setzt das UKGM heute schon die Digitalisierung um und nutzt KI zum Wohl der Patienten? Welche Perspektiven ergeben sich daraus?

Prof. Werner Seeger: Schon jetzt ist eine Universitätsklinik, sowie auch jedes große Krankenhaus, ohne Digitalisierung nicht mehr denkbar. Dieses ist quasi ein kontinuierlicher Prozess, dessen Potenzial jedoch bei weitem noch nicht ausgeschöpft ist. Wir stehen in der Tat gerade erst am Anfang, dankenswerterweise unterstützt durch die Medizininformatik-Initiative des Bundes, die schier unerschöpfliche Zahl von klinischen Daten zu Krankheitsverläufen systematisch für Forschungsevaluationen nutzbar zu machen. Hierbei ist offensichtlich, dass die schiere Masse der Daten deren auswertende Erfassung durch das menschliche Gehirn bei weitem übersteigt. Dieses umso mehr, da klinische Daten mit einer Vielzahl von Labordaten und in Zukunft immer differenzierteren Analysedaten moderne Technologien (Genomik, Proteomik, Metabolimik etc.) gekoppelt sind. Der gegenwärtige Stand der Digitalisierung, Informatik und Bioinformatik ist unverzichtbar, um Fragen zu beantworten, die wir hinsichtlich der Analyse dieser Datenmengen vorformulieren können.
Instrumente der künstlichen Intelligenz benötigen wir jedoch, um hieraus Fragen und Antworten zu kreieren, auf die wir gar nicht gekommen wären, die somit außerhalb unseres eigenen Ideenfeldes liegen (die unbekannten Unbekannten im Gegensatz zu den bekannten Unbekannten). Diese Entwicklung ist gerade erst am Beginn, und es ist das klassische Feld flexibler kleiner und mittlerer Unternehmen sowie auch im Umfeld der Universitäten entstehender Startups, und hier sehe ich auch sehr gute Voraussetzungen für die Healthcare Strukturen der Region Mittelhessen.

Dieses Interview von Marc Schäfer wurde zuerst als „Experte zu Corona: Chronische Schädigung der Lunge möglich?“ in der Gießener Allgemeine Zeitung veröffentlicht.

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