Werner Seeger beschäftigt sich seit mehr als drei Jahrzehnten mit dem durch Viren hervorgerufenen plötzlichen Lungenversagen. Dennoch hat das Coronavirus auch für den ärztlichen Geschäftsführer des Uniklinikums überraschende Auswirkungen. Im Interview spricht der Mediziner über die Corona-Lage am UKGM, vielversprechende Studien, die Kooperation mit 16 anderen Kliniken, und er erklärt, was er über die Entscheidungen von Politikern denkt.
Autor: Marc Schäfer
Wie geht es Ihnen?
Seeger: Danke, recht gut. Selten haben sich so viele Menschen nach meinem Wohlergehen erkundigt wie im Augenblick.
Als Chef des UKGM kommt Ihnen derzeit eben eine Ausnahme- stellung zu.
Seeger: Ich muss zugeben, ich spüre auch eine gewisse Anspannung, ob ich allen Notwendigkeiten gerecht werde. Aber es ist nicht fundamental anders als sonst. Ein Klinikum zu leiten, bedeutet immer auch eine Verantwortungslast. Hinzu kommt im Moment allerdings auch die Verantwortung für insgesamt 17 Krankenhäuser der Versorgungsregion, mit denen wir uns abstimmen und die aus Gießen heraus koordiniert werden. Glücklicherweise besteht in dieser Region sowieso schon eine sehr gute Kooperationsstruktur, die Kollege Friedrich Grimminger aufgebaut hat und die uns jetzt sehr hilft. In unserer Region ist unter Corona-Vorzeichen alles sehr zufriedenstellend gelaufen, u
Wie sehr belastet Sie die Corona-Situation?
Seeger: Sie ist für alle Mitarbeiter sehr belastend. Aber wir verfügen am UKGM und in den anderen Häusern der Versorgungsregion über medizinisch und pflegerisch ausgezeichnete Mitarbeiter. Daher haben wir eine sehr gute Basis, um mit kritischen Situationen zurechtzukommen. Das ist wiederum beruhigend, obwohl eine vorsichtige Gespanntheit nicht zu leugnen ist. Wir können ja nicht voraussagen, wie sich die Pandemie entwickelt.
Ist denn im Umgang mit den Covid-Patienten schon Routine eingekehrt?
Seeger: Das größte Problem bestand anfangs darin, die klinischen Abläufe in vielfacher Hinsicht umzuorganisieren. Das haben wir in verschiedenen Stufen, jeweils angepasst an die zunehmende Zahl der Covid-Patienten, getan. So etwas wird nie zu Routine. Eher schon Routine ist jetzt der Umgang mit den Patienten geworden, von den Schwerkranken, die beatmet werden müssen, bis zu denen, die wir in häusliche Quarantäne entlassen können. Aber es gibt auch da noch viele offene Fragen hinsichtlich des Krankheitsverlaufes, die bisher nicht beantwortbar sind. Insofern: partiell Routine, aber wir betreten täglich auch Neuland.
Wie stellt sich die Lage am Klinikum gerade dar?
Seeger: Auch bei uns am UKGM, wie in ganz Hessen, war die Infektionslage bisher immer sehr gut beherrschbar. Gegenwärtig haben wir meist um die 18 Patienten in der besonders hergerichteten Covid-Intensivstation unter Beatmung und immer etwa zehn bis zwölf, die stationär versorgt, aber nicht beatmet werden müssen und somit keiner intensivmedizinischen Maximalbehandlung bedürfen.
18 klingt jetzt gar nicht so bedrohlich.
Seeger: Vor allem daran gemessen, dass wir in Gießen 156 Intensivbetten mit Beatmungsmöglichkeit haben. Wir sind das Haus mit den meisten Intensivstationsbetten in Hessen, aber viele sind natürlich mit anderen Patienten belegt, z.B. nach herzchirurgischen Eingriffen oder nach Organtransplantationen. Insgesamt wurden in unserer Versorgungsregion bisher etwa 200 Patienten mit schwerer Corona-Infektion stationär versorgt.
Wie viele Betten halten Sie für Covid-Patienten vor?
Seeger: Gegenwärtig haben wir Platz für bis zu 30 Covid-Patienten mit Beatmung geschaffen. Durch die besondere Anfälligkeit, den hohen Pflegeaufwand der Covid-Patienten und die extremen Hygienemaßnahmen brauchen wir aber eindeutig sehr viel mehr Personal zur Versorgung als für andere Patienten der Intensivstation.
Sie forschen viele Jahre an Lungenkrankheiten. Was wussten Sie schon über die Bedrohung durch Corona?
Seeger: Wir beschäftigen uns am Lungenforschungs-Schwerpunkt in Gießen, der von mir und meinem Kollegen Grimminger geleitet wird, seit mehr als drei Jahrzehnten mit Problemen des akuten Lungenversagens, unter anderem durch verschiedene mikrobielle Erreger induziert. Insofern haben wir einen großen Erfahrungsschatz im Grundverständnis dieses Organversagens und im klinischen Umgang mit diesen kritischen Patienten. Zudem gehört zu unserem Forschungsverbund eine von Susanne Herold geleitete und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte Forschergruppe, welche speziell die Mechanismen und neue Therapieaspekte des durch Viren hervorgerufenen Lungenversagens untersucht: neben der Auslösung durch Influenza-Viren und dem früheren SARS-Virus beziehen diese Untersuchungen jetzt natürlich auch Studien zum Lungenversagen durch Covid-19 mit ein.
Welches aktuelle Forschungsprojekt könnte jetzt konkret schon in der Klinik helfen?
Seeger: Es läuft unter unserer Leitung bereits seit drei Jahren eine große Studie zur Verbesserung der Immun- und Regenerationsfähigkeit der Lunge bei Virus-induziertem Lungenversagen, indem wir bei beatmeten Patienten über Aerosol-Anwendung der Lunge einen speziellen Wachstumsfaktor zuführen. Diese Studie schließt nun auch Corona-Patienten mit ein. Sie wird zudem gerade erweitert um eine große Studie, die dieses Behandlungsprinzip bei betroffenen Corona-Patienten überprüfen soll, bevor sie beatmet werden müssen, um eben das Fortschreiten der Lungenschädigung bis zur Beatmungspflichtigkeit zu verhindern. Das zeigt: Wir profitieren von unserer Lungenforschungsstruktur in Gießen, um neue Therapiekonzepte für die gegenwärtige Pandemie zu entwickeln.
Was hat Sie an dem neuen Virus verwundert?
Seeger: Überraschend ist, dass das Lungenversagen sich so lange hinzieht. Wir haben viele Patienten, die wir mehr als drei Wochen künstlich beatmen, und stellen fest, dass sich die Regeneration der Lunge nur sehr langsam einstellt. Das ist sehr ungewöhnlich. Diese Patienten haben natürlich alle Risiken, in diesem Verlauf an Komplikationen zu versterben. Wir benötigen viel Geduld und ausdauernde optimale Versorgung bis zur Erholung des Lungengewebes.
Was bedeutet es für einen Menschen, wenn er mehr als drei Wochen lang beatmet werden muss?
Seeger: Drei oder mehr Wochen intensivmedizinische Behandlung mit künstlicher Beatmung stellen eine große Belastung für den Allgemeinzustand dar, mit einem erheblichen Verlust an Muskelmasse, Körpergewicht und Fitness. Hinzu kommt das seelische Trauma, eine schwerste Erkrankung mit Todesnähe durchlitten zu haben. Glücklicherweise gelingt körperlich zumeist eine vollständige Erholung, und auch die seelische Belastung kann von den allermeisten Patienten sehr gut bewältigt werden. Offene Fragen bestehen im Hinblick auf die Regenerationsfähigkeit der Lunge: „normale“ Lungenentzündungen können in der Regel komplett überwunden werden. Die Lunge ist in der Lage, die zarte Architektur des Lungengewebes vollständig wiederherzustellen. Bei sehr langem Verlauf können jedoch chronische Veränderungen auftreten, die wir für die Lungenentzündung durch Corona-Infektion gegenwärtig aber noch nicht vollständig beurteilen können. Wir kennen jedoch von anderen Lungeninfektionen das Reaktionsmuster einer sich anbahnenden chronischen Schädigung durch langen Krankheitsverlauf und Beatmung. Wir hoffen, dieses auch bei Corona-Patienten durch geschicktes therapeutisches Management weitgehend verhindern zu können.
Kann die von Ihnen angesprochene Studie zur Unterstützung der Regeneration nicht genau da helfen?
Seeger: Ja, denn es ist ein anderer Ansatz als die gängigen Therapiekonzepte, die primär darauf zielen, den Viruseintritt in die Zellen der Lunge oder die Vermehrung in diesen Zellen zu verhindern. Unser Ansatz hat zum Ziel, die Lunge in ihren natürlichen Regenerationskräften zu stärken. Das ist jenseits der Spezifität des Virus von Interesse, denn ein solcher Ansatz könnte auch bei künftigen Attacken mit veränderten Viren auf die Lunge Gültigkeit haben.
Sie haben die Versorgungsregion angesprochen. Wie läuft die Zusammenarbeit konkret?
Seeger: Die 17 Krankenhäuser aus dem Kreis Gießen, dem Lahn-Dill-Kreis und dem Wetteraukreis sind in die Level 1 bis 4 eingeteilt. Level 1, dazu gehören wir und die Kerckhoff Klinik, sind Krankenhäuser der absoluten Maximalversorgung, in denen standardisiert auch eine extrakorporale Membranoxygenierung, kurz ECMO, durchgeführt werden kann. Das ist ein künstliches Lungenersatzverfahren, das zur Anwendung kommt, wenn Patienten in einem so schweren Stadium des Lungenversagens sind, dass sie selbst mit maschineller Beatmung nicht überleben können. Level 2 und 3 sind abgestufte Versorgungsniveaus, und Level 4 sind Häuser, die eigentlich gar keine Covid-Patienten aufnehmen, aber die anderen Häuser durch Übernahme von nicht-Covid-Patienten entlasten sollen.
Was zeigt sich in der bisherigen ungewöhnlichen Zusammenarbeit?
Seeger: Das Zusammenspiel läuft sehr gut und liefert eine Gesamtübersicht über den Zustand der in der Region schwer Covid-erkrankten Patienten. Wir gehen die Patienten täglich in einer Telefonkonferenz mit den verantwortlichen Leitern der Krankenhäuser durch und stimmen das Vorgehen ab. Insbesondere entscheiden wir, ob Patienten aus einem Haus der niedrigeren Versorgungsstufe in ein Level 1 Haus verlegt werden müssen, wenn deren Erkrankung einen bestimmten Schweregrad erreicht hat. Auch Materialengpässe werden ausgeglichen.
Wenn man aus der Stadt auf den Seltersberg blickt, erinnert das Klinikum an ein Schlachtschiff, das Gießen behütet. Und Sie sind der Kapitän. Können Sie mit diesem Vergleich etwas anfangen?
Seeger: In einer solchen Krise kommt einem führenden Haus eine zentrale Rolle zu. Das ist auch gut so. Man sieht an den internationalen Infektions- und Todeszahlen, dass wir in Deutschland intensivmedizinisch sehr gut aufgestellt sind. Aber natürlich kann ein Haus der Maximalversorgung seine Rolle nur erfüllen, wenn es in der Region gut eingebunden ist, über einen Stamm exzellenter, sehr erfahrener Ärztinnen und Ärzte und ein kompetentes, hoch motiviertes intensiv-medizinisches Pflegepersonal verfügt. Sie alle, und auch die ebenfalls beteiligten engagierten verschiedenen Berufsgruppen, sind die tragenden Säulen in dieser Belastungssituation. Insofern will ich da ganz bescheiden sein: Das Ausüben einer leitenden Rolle in einer komplexen Struktur wie einer Klinik ist nur möglich, wenn eine über viele Jahre gewachsene Kooperationsstruktur besteht, sowie die Bereitschaft aller, sich in die Versorgung von schwer kranken Patienten maximal einzubringen. Es erfüllt mich mit Dankbarkeit, in Gießen über diese Voraussetzungen zu verfügen.
Aber auch die Mitarbeiter warten auf den Tag, an dem es wieder wird wie früher. Wird dieser Tag kommen?
Seeger: Das ist schwer zu sagen. Wir werden wohl eher eine „neue Normalität“ erleben. Wenn es nicht gelingt, mit einer Impfung für große Bevölkerungsgruppen in absehbarer Zeit eine Immunität zu schaffen, scheint es, dass uns diese Virusinfektion sehr lange begleiten wird, auch wenn es saisonal vielleicht etwas abklingt. Selbst wenn es in Deutschland schon eine erhebliche Zahl Infizierter gibt und die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher sein mag, werden wir wohl gegenwärtig in Deutschland deutlich weniger als zwei Millionen Menschen mit Corona-Immunität haben, und bei 80 Millionen Bürgern kann sich jeder ausrechnen, dass es auf diesem Weg noch sehr lange dauern würde, bis eine „Herden-Immunität“ erreicht wäre.
Also heißt das: Warten auf die Impfung?
Seeger: Ja. Diese Zeit kann nach gegenwärtigem Kenntnisstand nur durch Impfungen dramatisch verkürzt werden. Ich denke, wir werden uns zunächst mit diesem Virus einrichten müssen, ihn hinsichtlich der Ausbruchsintensität kontrollieren und das Gesundheitssystem darauf einstellen müssen. Die Herausforderung besteht darin, gleichzeitig zunehmend auch wieder nicht infizierte Patienten zu versorgen, die gegenwärtig etwas in den Hintergrund getreten sind. Nicht-Corona-Patienten sind ja nicht plötzlich „Patienten zweiter Klasse“, sie müssen ebenso optimal versorgt werden, wie das vor der Corona-Pandemie auch der Fall war. Für uns bedeutet das, dass wir flexibel bleiben müssen, den „Normalbetrieb“ wieder hochfahren und gleichzeitig für Corona-Patienten gewappnet bleiben müssen.
Dazu müssen Sie den Menschen die Angst vor Infektionen im Krankenhaus nehmen.
Seeger: Ja. Es ist ja nicht so, dass wir rabiat den Routinebetrieb heruntergefahren hätten. Wir sehen gegenwärtig noch von sehr elektiven Eingriffen ab, die ohne Konsequenzen verschoben werden können, führen aber auch jetzt alles medizinisch Notwendige durch. Es ist aber auch so, dass sehr viele Patienten aus Angst vor einer Infektion gar nicht in die Klinik kommen. Das müssen wir dringend korrigieren, denn wir sehen in der Notaufnahme gerade definitiv viele Patienten, die sehr viel später kommen als für die optimale Behandlung notwendig wäre. Einige kommen sogar so spät, dass ihnen nicht mehr geholfen werden kann. Das ist falsch. Die Infektionsbereiche im Krankenhaus sind von den anderen Bereichen geradezu hermetisch getrennt, und die Infektionswege sind so kontrolliert, dass ich der Meinung bin, dass man sich in einem Geschäft in der Innenstadt leichter infizieren kann als bei uns in der Klinik.
Wenn Sie abends bei einem Glas Wein sitzen, was geht Ihnen durch den Kopf?
Seeger: Ich überlege, ob ich alles Notwendige bedacht habe und ob wir ausreichend auf neue Entwicklungen vorbereitet sind. Das ist für einen Leiter einer Klinik aber nicht ungewöhnlich. Diese begleitende Sorge ist immer da, fast auch Routine. Natürlich blicke ich auf weltweite Zahlen und denke manchmal, lieber Himmel, wie sollen wir mit dieser Situation über das Gesundheitssystem hinaus – in der Wirtschaft, im Sozialen, hinsichtlich vieler persönlicher Schicksale – bloß umgehen. Und wie wird diese Pandemie in viel weniger entwickelten Regionen zuschlagen, und was können wir dann tun?
Und was denkt der Mediziner über die Politiker?
Seeger: Ich denke, dass die Politik in Deutschland bislang einen sehr guten Job gemacht hat. Es gibt immer die eine oder andere Sache, die man auch anders hätte machen können. Aber seit definitiv klar ist, mit welcher Problematik wir es zu tun haben und zu welchen Katastrophen dieses Virus führen kann, wurden sehr konsequent wirksame Maßnahmen umgesetzt, die – so finde ich – eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung haben. Es ist aber auch normal, dass jetzt eine Diskussion beginnt, inwieweit man einzelne Maßnahmen zurücknehmen kann, denn die haben natürlich gravierende, teils verheerende Auswirkungen. Auf der anderen Seite dürfen wir auch das Gesundheitssystem nicht dekompensieren lassen. Insgesamt können wir in Deutschland etwas stolz darauf sein, dass eine Demokratie auch in kritischen Situationen sehr wohl handlungsfähig ist, mit breiter Zustimmung der allermeisten Bürger. Das ist doch ein sehr gutes Signal!
Dieses Interview von Marc Schäfer wurde zuerst als „Experte zu Corona: Chronische Schädigung der Lunge möglich?“ in der „Gießener Allgemeine Zeitung“ veröffentlicht.