Ein einzelner Laborwert in sechs Kilo Akten, kann die Lösung bringen

Er ist der deutsche „Dr. House”. Auf seinem Schreibtisch landen jeden Tag schwierige Fälle von Patienten auf der verzweifelten Suche nach einer Diagnose. Im Interview erläutert Prof. Dr. Jürgen Schäfer, Leiter des Zentrums für unerkannten und seltenen Erkrankungen am Uniklinikum Marburg, die Detektivarbeit bei der Suche nach einer Diagnose für komplexe Krankheitsbilder.

Foto: Sarah Pflug

Was macht ein Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen anders als andere?

Prof. Jürgen Schäfer: Wir machen nichts anderes als andere Ärzte in ganz Deutschland und wir sind auch keine besseren Ärzte, – und schon gar keine Dr. Houses. Den Luxus den wir hier am Uniklinikum in Marburg allerdings haben ist der, dass wir die Freiräume und die Zeit zugestanden bekommen, die notwendig sind um schwierige Fälle akribisch durchzuarbeiten. Wir haben auch die Labor- und IT- Unterstützung, die für uns sehr wichtig sind. Wenn wir Erkrankungen vor uns haben, die weltweit vielleicht ein- oder zweimal beschrieben sind, dann brauchen wir leistungsstarke IT-Unterstützung, die uns die Daten liefern, die vielleicht irgendwo in Südamerika einmal publiziert wurden. 

Da spielt auch Künstliche Intelligenz eine Rolle, da sie unsere Tätigkeiten in absehbarer Zeit enorm erleichtern wird. Hier spielt für uns auch die e-Health Initiative eine große Rolle, die bereits Herr Stefan Grüttner als hessischer Sozialminister ins Leben gerufen hat und nun konsequent fortgesetzt wird. Auch die Tatsache, dass wir seit diesem Jahr in Marburg eine spezielle Professur für künstliche Intelligenz in der Medizin mit dem weltweit bekannten KI-Pionier Prof. Dr. Martin Hirsch einrichten konnten, ist für die „Seltenen“ mit viel Hoffnung verbunden. Wir haben auch den Vorteil, dass wir ein klinisches Forschungslabor zur Verfügung haben und einen niedrigschwelligen Zugang zu fast allen Forschergruppen unserer Universität, so dass wir mit deren Hilfe auch recht komplexe Probleme lösen können. Denn wenn wir es schaffen auf den Mond zu fliegen, dann sollten wir auch in der Lage sein herauszufinden, woran ein Mensch leidet. Und wie wichtig eine gute Diagnostik ist, sowohl für den Betroffenen als auch für die gesamte Gesellschaft, erleben wir gerade in Zeiten von Corona. Ob solche Einrichtungen wie unser ZusE dauerhaft bestehen können, steht und fällt jedoch mit der Verankerung in Versorgungsplänen und einer fairen Kostenerstattung durch die Kostenträger. Dies ist selbst nach 7 Jahren erfolgreicher ZusE-Arbeit noch immer nicht der Fall, obwohl wir und auch die politisch Verantwortlichen wissen, wie wichtig solche Einrichtungen für viele Menschen sind. 

„Wir sind weltweit wahrscheinlich die einzige Universitätsklinik, die ein Zentrum aufgrund von einer Lehrveranstaltung aufgebaut hat.”
Prof. Dr. Jürgen Schäfer

Wie ist das Zentrum denn entstanden?

Prof. Jürgen Schäfer: Das kam alles eher zufällig auf uns zu. Seltene Erkrankungen haben mich schon immer interessiert. Deshalb habe ich auch 4 Jahre lang an den National Institutes of Health (NIH) in den USA als Wissenschaftler gearbeitet und bin froh an einer exzellenten Universitätsklinik weiterhin auch Forschung betreiben zu können. Hier habe ich das Glück, dass ich als Stiftungsprofessor der „Dr. Reinfried Pohl Stiftung“ auch Freiräume und Unterstützung habe, um auch innovative Lehrkonzepte zu entwickeln und auszuprobieren.  Im Grunde genommen hat alles mit einer kleinen Lehrveranstaltung mit dem Titel „Dr. House revisited – oder: Hätten wir den Patienten in Marburg auch geheilt?” angefangen. Im Rahmen dieses Seminars nutze ich die bei Studierenden beliebte Fernsehserie „Dr. House“ quasi als Türöffner, um sie für seltene Erkrankungen und Diagnosefindungsstrategien zu begeistern. Für dieses Lehrformat, das wir zwischenzeitlich auch wissenschaftlich ausgewertet haben, wurde ich 2010 mit dem „Ars Legendi Preis“, dem höchsten Lehrpreis für Medizinlehrende, vom medizinischen Fakultätentag (MFT) und dem deutschen Stifterverband ausgezeichnet. Das etwas ungewöhnliche Seminar hat aber nicht nur den Studierenden gut gefallen, sondern hat auch ein enormes Medieninteresse geweckt. Nachdem ich dann auch noch im deutschen Ärzteblatt plötzlich zum „deutschen Dr. House“ ernannt wurde und im Jahr 2013 mit dem „Pulsus Award“ als Arzt des Jahres ausgezeichnet wurde, kamen aus der ganzen Republik Anfragen von verzweifelten Patienten, die dringend Hilfe benötigten. Unsere damalige Geschäftsführung mit Prof. J. Werner, H. Thiemann und G. Weiß unterstützten mich in dieser Situation nach besten Kräften und gründeten dann Ende 2013 das Zentrum für unerkannte Krankheiten (ZuK, jetzt: Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen (ZusE) am Uniklinikum Marburg.  Dafür, dass man mich damals nicht alleine mit tausenden von Anfragen hat sitzen lassen, sondern aus der Not heraus ein, in seiner Art bundesweit einmaliges Zentrum gründete, bin ich heute noch dankbar. Die Tatsache, dass an einer renommierten, fast 500 Jahre alten Universitätsklinik ein völlig neuartiges Zentrum nur aufgrund einer Lehrveranstaltung für Medizinstudierende gegründet wurde, dürfte weltweit einmalig sein.  

„Hessen ist eine extrem forschungsstarke Region.”
Prof. Dr. Jürgen Schäfer

Wie viele Patientenanfragen wenden sich an Sie?

Prof. Jürgen Schäfer: Wir erhalten im Jahr etwa 1.000 Patientenanfragen. Insgesamt haben wir bisher knapp 9.000 Patientenanfragen bekommen. Manche Anfragen lassen sich leicht lösen, bei anderen Anfragen beißen aber auch wir uns über Tage hinweg die Zähne aus.  Wir verbringen sehr viel Zeit mit der Sichtung von Befunden. Wegen der Vielzahl von Anfragen müssen wir darauf bestehen, dass die Anfragen von den behandelnden Ärzten mit einer Beschreibung der genauen Probleme an uns geschickt werden. Eine ausführliche Anamnese, also eine genaue Erhebung der Patientengeschichte, ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Arbeit. Eine ganz wichtige Funktion haben bei uns die ZusE-Teambesprechungen, mit denen wir die kompliziertesten Fälle in einer Gruppe erfahrener Kollegen und Kolleginnen besprechen. In dem Team sind dann fast alle Schwerpunkte vertreten, – von der Allgemeinmedizin, Labormedizin, Kardiologie, Endokrinologie, Nephrologie, Neurologe u.a. bis hin zur Psychosomatik, die bei uns eine ganz wichtige Rolle inne hat. Manchmal schicken uns die anfragenden Ärztinnen und Ärzte mehrere Aktenordner vollgepackt mit Arztbriefen und Befunden zu. Dann brauchen wir manchmal tagelang alleine für die Aufarbeitung, weil wir uns jeden einzelnen Laborwert anschauen müssen. Denn manchmal ist es wirklich nur ein einzelner Laborwert in sechs Kilogramm Papier, der dann die Lösung für die Erkrankung gibt und nicht überblättert werden darf. Aufgrund dessen sind aber auch die Wartezeiten unerträglich lange und das ist sowohl für die Patienten als auch für uns eine große Belastung. Wir bitten auch die Patienten zunächst die heimatnahen Universitätskliniken zu kontaktieren oder aber nahegelegen Zentren für seltene Erkrankungen, die sich im SE-Atlas finden lassen. Gerade für unsere Arbeit wäre eine elektronische Patientenakte, die einen raschen Überblick über alle bislang erhobenen Befunde erlaubt, eine große Hilfe.

Prof. Dr. Jürgen Schäfer, Foto: transQUER

Welcher Patientenfall hat Sie besonders beeindruckt?  

Prof. Jürgen Schäfer: Fälle die mich wirklich belasten, sind Patientenschicksale die eigentlich verhindert hätten werden können, wenn man nur früh genug die richtige Diagnose gestellt hätte. Ein Patient ist für mich in lebhafter und schmerzhafter Erinnerung geblieben. Er kam zu uns nahezu blind und taub, mit extremer Herzschwäche und eigentlich todkrank. Am Ende der Untersuchung stellte sich heraus, dass die Ursache seiner Krankheit eine Vergiftung durch eine kaputte Hüftkopfprothese war. Er hatte eine Metall-Hüftkopfprothese als Ersatz für eine gebrochene Keramik-Prothese erhalten. Die verbliebenen Keramiksplitter zerstörten den Metallkopf und so kam es zu einer schweren Metallvergiftung, an der unser Patient (und in der Folge auch viele andere) fast gestorben wäre. Nachdem die defekte Hüftkopfprothese ausgewechselt wurde, hat sich der Patient erfreulicherweise einigermaßen erholt und diese lebensbedrohliche Situation überstanden. Solche Schicksale, die das Leben von Patienten gefährden  und die im Grunde gar nicht erst hätten passieren dürfen, berühren selbst altgediente Klinikärzte, die eigentlich schon fast alles gesehen haben.

Warum ist so ein Zentrum gerade in Mittelhessen so erfolgreich?

Prof. Jürgen Schäfer: Auch in anderen Bundesländern gibt es solche Zentren, die nicht minder erfolgreich sind. Allerdings würde ich – auch in meiner Eigenschaft als „Botschafter Mittelhessens“ – schon darauf hinweisen wollen, dass Hessen und insbesondere auch gerade Mittelhessen eine extrem forschungsstarke Region im Bereich der Medizin ist.  Mittelhessen liegt nicht nur im Herzen Deutschlands, sondern hat mit über 71.000 Studierenden an drei Hochschulen – Justus-Liebig-Universität, Philipps-Universität Marburg und Technische Hochschule Mittelhessen – die höchste Studierendendichte deutschlandweit vorzuweisen (siehe: ). Wir haben unglaublich tolle Schwerpunkte in unserer Region, wie zum Beispiel ein  ‚Excellence Cluster Cardio-Pulmonary System‘ in Gießen, ein Hochsicherheitslabor der Sicherheitsstufe S4 für hochpathogene Viren in Marburg, mehrere Max-Planck Institute, Sonderforschungsbereiche und eine forschungsstarke Pharma sowie optische Industrie. Zudem ist die Universitätsklinik Gießen und Marburg (UKGM) eine der größten Uni-Kliniken in ganz Deutschland. Es sind in der Region sehr viele namhafte Ärzte und renommierte Forscher tätig und da die Universitätsmedizin auch den Versorgungsauftrag eines städtischen Klinikums mit erfüllt, steht hier der Patient seit jeher im Mittelpunkt und wird auf höchstem Niveau versorgt. 

Wir haben auch mit der Technischen Hochschule Mittelhessen einen tollen Verbund, das heißt wir haben vor Ort eine Vernetzung von Strukturen, die man anderswo in Deutschland lange suchen muss. Vorteilhaft ist dabei, dass wir – anders als in vielen Mega-Metropolen, die natürlich auch solche Strukturen aufzuweisen haben – in Mittelhessen ein familiäres Umfeld haben, allerorts auf offene Türen und große Hilfsbereitschaft trifft. Zusätzlich haben wir auch mit vielen Unternehmen wie beispielsweise CSL Behring traditionell eine sehr enge Verknüpfung im Forschungsbereich und in der Therapie. Die Tatsache, dass auch politisch mehr Kooperation statt Konkurrenz unter Universitäten gefördert wird, kommt dabei unserer Region ganz besonders zugute, – es liegt an uns, das Beste draus zu machen.

Hören Sie in Ergänzung zu diesem Interview auch unsere Podcast-Folge mit Prof. Schäfer: Seltene Erkrankungen: „Dr. House“ ermittelt.

Schreibe einen Kommentar