Seltene Erkrankungen sind häufiger als man denkt

In Mittelhessen schafft ein starkes Netzwerk aus Industrie und Forschung besondere Aufmerksamkeit und Hilfe für Patienten mit seltenen Erkrankungen. Sabine Pitschula ist eine von ihnen. Anlässlich des Rare Disease Day am 28. Februar sprach Moderator Dr. Eckart von Hirschhausen mit ihr und Medizin-Experten eines Kompetenz-Netzwerkes über den oft langen Weg zur Diagnose und die therapeutischen Möglichkeiten.

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Wer Sabine Pitschula heute sieht, erlebt eine lebensfrohe Frau, die scheinbar nichts so schnell aus der Ruhe bringt. Doch ihr Weg dorthin war lang und beschwerlich. Schon als Kind litt sie an verschiedensten Erkrankungen, die kein Arzt in den Griff bekam. Etwa 50 Jahre hat es gedauert, bis die heute 54-Jährige endlich die richtige Diagnose erhielt: „Sie leiden an einem primären Immundefekt, eine seltene Erkrankung.” 

Am „Tag der Seltenen Erkrankungen” rücken solche und ähnliche fast unbekannte Leiden stärker ins Licht der Öffentlichkeit. In den Schaltjahren wird passenderweise der 29. Februar dafür genutzt, der seltenste Tag, sonst findet er am 28. Februar statt. Jedes Jahr organisieren Patientennetzwerke, Verbände und Unternehmen zum weltweiten Aktionstag Veranstaltungen, um auf seltene Erkrankungen und ihre Auswirkungen hinzuweisen. Unter dem Motto „Ein starkes Netzwerk für die Waisen der Medizin” trafen sich in Marburg Patienten, renommierte Wissenschaftler und Unternehmensvertreter, um über ihre Erfahrungen mit Seltenen Erkrankungen sowie über ihre Motivation zu berichten, sich auf diesem Gebiet für mehr Aufklärung und Forschung zu engagieren.

Der bekannte Moderator Dr. Eckart von Hirschhausen sprach mit Patientin Sabine Pitschula, mit Prof. Dr. Jürgen Schäfer, dem Leiter des Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen (ZusE) am Uniklinikum Gießen-Marburg (UKGM), und mit Prof. Dr. Martin Hirsch, der den Lehrstuhl Künstliche Intelligenz in der Medizin an der Philipps Universität Marburg hält. Außerdem dabei waren Dr. Dirk Hoheisel, General Manager bei CSL Behring, und Berthold Süsser, Geschäftsführer der CSL Plasma GmbH. Sie schilderten die Komplexität und die Herausforderungen in der Produktion von Therapien gegen Seltene Erkrankungen. 

Mit dem ZusE an der Universitätsklinik Marburg, der Universität Marburg, CSL Plasma und CSL Behring sind in der Region Marburg wichtige Kompetenzen gebündelt, die gemeinsam daran forschen und arbeiten, dass Patienten mit Seltenen Erkrankungen zukünftig schneller geholfen werden kann. 

Sabine Pitschula wäre froh über eine raschere Diagnose gewesen. Unzählige Facharztpraxen musste sie besuchen, bis ein Mediziner endlich erkannte, woran sie leidet. „Jeder Arzt betrachtete sein Fachgebiet, aber keiner alle meine Symptome zusammen”, erinnert sie sich heute. Irgendwann hatte sie das Gefühl, nur noch eine nervige Patientin für die Mediziner zu sein und  fühlte sich im Stich gelassen. Das Vertrauen in Ärzte hatte Sabine Pitschula auf ihrem langen Leidensweg verloren, bis sie vor wenigen Jahren auf einen Immunologen traf, der ihr helfen konnte. Heute will sie anderen Betroffenen vor allem eines mitgeben: „Sie sind nicht alleine!”

Detektivarbeit im Sinne der Patienten

Das möchte auch Prof. Dr. Jürgen Schäfer vermitteln. Er und sein Team haben mit dem ZusE in Marburg etwas geschaffen, das Vorbildcharakter weit über Hessen hinaus gewonnen hat. Im ZusE fahnden sowohl Ärztinnen als auch Wissenschaftler nach der richtigen Diagnose eines unklaren Krankheitsbildes, und seien der Stoffwechseldefekt oder die Immunschwäche auch noch so selten. Das Zentrum wird seit seiner Gründung im Dezember 2013 von Patientenanfragen regelrecht überflutet. In Schäfers Büro stapeln sich die Zuschriften und trotz langer Arbeitstage ist die Wartezeit für die Patienten extrem lang, – viel zu lang, wie Schäfer meint. Das ZusE hat den Anspruch sich sowohl um seltene als auch bislang unerkannte Erkrankungen zu kümmern, denn: „Den Patienten ist es egal, ob die Krankheit selten oder häufig ist. Für sie ist wichtig, dass ihnen geholfen wird.” 

Prof. Dr. Jürgen Schäfer

Im ZusE haben die Forschenden, was viele Ärztinnen und Ärzte in ihren Praxen heute immer weniger haben: Zeit – für die Patienten, ihre Krankheitsgeschichte und Literatursuche. Zeit, die das Uniklinikum trotz aller Sparzwänge im Gesundheitswesen dem ZusE Team gewährt, – ein Investment, das oftmals zum Ziel führt und zeigt, wie wichtig der Faktor Zeit in der Medizin ist. „Vor allem die ausführliche Erhebung der Vorgeschichte sowie die akribische Sichtung der Vorbefunde des Patienten kommen heute aus Zeitmangel häufig zu kurz und verhindern die Diagnosefindung bei komplizierten Erkrankungen“, erklärt der ZusE-Leiter. 

ZusE – das Akronym ist angelehnt an den Namen von Konrad Zuse, den Entwickler der modernen Computertechnik. Der Grund: „Neben anderen Aspekten wie etwa Bildgebung, Labor und Anamnese spielen bei uns Computertechnik und Künstliche Intelligenz für die Diagnosefindung eine ganz große Rolle“, erklärt Prof. Dr. Schäfer.

Computer lassen sich nicht beeinflussen

Ein Experte auf diesem Fachgebiet sitzt in Marburg quasi nebenan. Seit 2020 hat Prof. Dr. Martin Hirsch an der Universität Marburg eine Professur für KI in der Medizin. Hirsch erklärt: „Ich glaube, dass die Medizin heute die Möglichkeiten unseres Gehirns latent überfordert.” Künstliche Intelligenz könne einen Arzt, der das Gefühl hat „hier ist irgendwas komisch“, aber nicht weiß, was es ist, bei der Diagnosestellung unterstützen. „Die Verknüpfung von Datensätzen ist in mancher Hinsicht den Menschen voraus”, sagt Hirsch und erläutert:

„Menschen neigen zur sogenannten „Confirmation Bias“, also dazu, erstmal ihre eigenen Annahmen und Erwartungen zu bestätigen und das Unwahrscheinliche auszublenden. Computer tun das nicht.”
Prof. Dr. Martin Hirsch
Professor für KI in der Medizin

Moderator Dr. von Hirschhausen ist selbst Mediziner. Er kennt das Phänomen und erinnert sich an einen Satz aus einer Medizinvorlesung: „Wenn du Hufgetrappel hörst, denk nicht an Zebras, denk erstmal an Pferde. Denn Häufiges ist häufiger als Seltenes. Aber“, fasst Hirschhausen zusammen, „Seltenes ist eben doch viel häufiger als man denkt”. Doch man muss es erstmal erkennen, und das ist bei Seltenen Erkrankungen eine große Herausforderung. Mittels KI könne die Sachlage und die Krankheitsgeschichte rund um den Patienten schneller geklärt werden, so dass dem Arzt mehr Zeit für den Patienten bliebe, sagt Hirsch und ergänzt: „So kann KI die Medizin am Ende wieder menschlicher machen.”

Dass Schäfer und Hirsch nun beide im mittelhessischen Marburg arbeiten, erleichtert die Entwicklung auf diesem Gebiet. Gemeinsam haben sie zum Beispiel über 1000 Fragen für ein Anamnesetool zusammengetragen, die perspektivisch mit der Unterstützung von künstlicher Intelligenz aufgearbeitet werden sollen. 

Jürgen Schäfer ist seit 2018 offizieller „Botschafter Mittelhessens“. „Hessen und insbesondere Mittelhessen ist eine extrem forschungsstarke, innovative Region im Bereich der Medizin mit jahrhundertelanger Tradition, ein toller wissenschaftlicher Standort im Herzen Europas mit exzellenten, hochmotivierten Forschenden und unglaublich viel Charme, – aber deutlich weniger Ablenkung als in den Metropolen“, sagt er schmunzelnd. „Zusätzlich haben wir mit vielen Unternehmen wie beispielsweise CSL Behring traditionell eine sehr enge Verknüpfung im Forschungsbereich und in der Therapie.“

Seltene Erkrankungen

In der Europäischen Union gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen von ihr betroffen sind. Da es mehr als 6.000 verschiedene Seltene Erkrankungen gibt, ist die Gesamtzahl der Betroffenen hoch. Immundefekte, neurologische Defekte und endokrinologische Defekte machen einen Großteil der Seltenen Erkrankungen aus. (Etwa 80 % der Krankheiten sind genetisch bedingt oder mitbedingt, selten sind sie heilbar.) Im Schnitt dauert es 5 Jahre, bis die Diagnose „Seltene Erkrankung” steht. Allein in Deutschland leben Schätzungen zufolge etwa vier Millionen Menschen mit einer Seltenen Erkrankung, in der gesamten EU geht man von 30 Millionen Menschen aus.

Blutplasma-Medikamente sind unersetzlich

CSL Behring setzt sich seit mehr als 100 Jahren für Menschen mit seltenen und schweren Erkrankungen ein. Um Leben zu retten und die Lebensqualität der Patienten wie auch ihrer Familien zu verbessern, erforschen und entwickeln die Mitarbeitenden Medikamente und Behandlungsmethoden ständig weiter. Mit z.B. rekombinanten oder aus Blutplasma gewonnenen Produkten können Gerinnungsstörungen, Immunschwächen und andere chronische seltene Erkrankungen behandelt und damit Menschen auf der ganzen Welt geholfen werden, wie auch Sabine Pitschula. Als sie vor wenigen Jahren endlich die richtige Diagnose erhielt, war sie unendlich erleichtert. Im Gespräch berichtet sie davon, wie positiv sich ihr Leben seit Beginn der für sie passenden Therapie, geändert hat. „Die Therapie bedeutet für mich eine immense Verbesserung der Lebensqualität”, sagt Pitschula. Seitdem weiß sie auch, wie wichtig Blutplasma in der Medikamentenherstellung ist: „Es unterscheidet für mich Leben vom Tod.“

Dr. Dirk Hoheisel, General Manager bei CSL Behring, erläutert: „Vor allem der Einsatz der Immunglobuline hat in den letzten Jahren extrem zugenommen. Viele Medikamente dieser Gruppe können Menschen mit schweren Erkrankungen helfen. Deshalb gehe ich davon aus, dass Blutplasma-Medikamente, wie Frau Pitschula sie erhält, auch in den nächsten Jahrzehnten eine wichtige Rolle spielen werden.” Berthold Süsser, Geschäftsführer der CSL Plasma GmbH, fasst zusammen: „Plasma ist ein lebensrettender Rohstoff. Allerdings ist die Plasmaspende weit weniger bekannt als die Blutspende. Es ist wichtig, dass wir gemeinsam das Bewusstsein für die Plasmaspenden fördern, denn weltweit benötigen über eine Million Kinder und Erwachsene Medikamente, die aus Plasma hergestellt werden.“ 

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