Prof. Dr. Werner Seeger, ist Ärztlicher Geschäftsführer des Uniklinikums Gießen. Er spricht im Interview offen darüber, was in der Corona-Krise auf das Klinikum und die Menschen zukommt.Künstlichen Intelligenz für die Zukunft der Medizin am UKGM.
Interview von Marc Schäfer
Herr Seeger, wie ist die Lage am Uni-Klinikum?
Prof. Werner Seeger: Gegenwärtig haben wir im intensivmedizinischen Bereich 27 Patienten mit schweren Covid-Infektionen. In unserem primären Covid-Intensivbereich haben wir 22 Plätze, sodass wir Patienten schon auf einen zweiten Bereich in unserer Anästhesiologie verteilen mussten. Wir betreuen mehr Patienten intensivmedizinisch als in den Spitzenzeiten der ersten Infektionswelle.
Ist das im gesamten Versorgungsgebiet der Fall?
Prof. Werner Seeger: Am UKGM haben wir – wie auch in der ersten Welle – die meisten intensivpflichtigen Patienten, aber in den anderen Häusern im Landkreis Gießen, dem Lahn-Dill-Kreis und der Wetterau liegen auch eine Reihe intensivmedizinisch zu versorgende Patienten. Das war in der ersten Welle nicht in diesem Ausmaß der Fall. In diesen Häusern liegen auch sehr viele Corona-Patienten auf Normalstation. Insgesamt sind die Zahlen in der Versorgungsregion höher als in der Spitze der ersten Welle – und sie steigen leider weiter an.
Gibt es weitere Unterschiede? Auch hinsichtlich der Patienten?
Prof. Werner Seeger: Im intensivmedizinischen Bereich haben wir jetzt viele Patienten in Altersklassen, die eigentlich nicht zu den extrem gefährdeten gehören. Von den 27, die wir am UKGM intensivmedizinisch versorgen, das heißt, die in den allermeisten Fällen beatmet werden, sind zwei Patienten in den 40ern, zwei in den 80ern und alle übrigen in den 50ern und 60ern. Das signalisiert, dass wir sehr viele Infektionen im jüngeren und mittleren Alter haben, von denen ein geringer, aber doch eben ein Anteil kritisch erkrankt. Glücklicherweise sind in der zweiten Welle bei uns bisher nur zwei Patienten gestorben. Aber für die Betrachtung der Sterblichkeit sind wir in der Infektionsphase noch zu sehr am Anfang.
Statistiken belegen, dass die zweite Welle vor allem durch Infektionen Jüngerer vorangetrieben wurde. Oft wird auch gemutmaßt, dass Menschen mit Migrationshintergrund mit ihrem Verhalten für hohe Infektionszahlen sorgen. Können Sie das aus Sicht der Klinik bestätigen?
Prof. Werner Seeger:Ich habe keine Zahlen. Aber es sind schon auch viele Patienten mit Migrationshintergrund bei uns. Das mag daran liegen, dass es dort kulturell häufiger größere Zusammenkünfte gibt, wie zum Beispiel anlässlich von Hochzeiten, nach denen sich die Infektion erheblich ausgebreitet hat.
Was haben Sie aus der Behandlung der Patienten der ersten Welle gelernt?
Prof. Werner Seeger: Der Umgang mit diesen Patienten ist hoch anstrengend. Sie müssen wiederholt auf dem Bauch gelagert werden, weil der Gasaustausch dann besser wird. Es müssen viele Körperfunktionen, viele Regelkreise im Gleichgewicht gehalten werden. Und wir müssen Zeit haben, leider oft sehr viel Zeit, bis sich die Lunge erholt. Den am längsten behandelten Patienten der ersten Welle haben wir erst vor wenigen Tagen entlassen können.
Medikamentös ist kein Durchbruch gelungen?
Prof. Werner Seeger: Es kommen zwei Medikamente zum Einsatz: Dexamethason und Remdesivir. Allerdings sind die Daten für Remdesivir nicht überragend. Mit Dexamethason erhofft man sich ebenfalls einen begrenzten Vorteil. Es laufen jedoch mehrere Studien mit innovativen Ansätzen, die zum Teil durch unser Zentrum initiiert wurden, von denen wir uns für die Zukunft eine Behandlungsverbesserung erhoffen.
Mit welchen Erwartungen blicken Sie unter diesen Gesichtspunkten am UKGM in die Zukunft?
Prof. Werner Seeger: Ich muss leider sagen, dass wir erwarten müssen, dass die Zahlen ansteigen. Selbst wenn die Ausbreitungsgeschwindigkeit jetzt erheblich gebremst wird, liegen wir auf einem Niveau, das immer neue Patientenzahlen bringt. Wir haben eine Nachlaufzeit von zwei, intensivmedizinisch sogar von drei Wochen. Wir müssen also davon ausgehen, dass die hohen Zulieferzahlen bleiben werden. Gleichzeitig müssen die Patienten sehr lange intensivmedizinisch behandelt werden. Das heißt, dass die Patienten, die jetzt auf der Intensivstation sind, ich sage fast hoffentlich, in drei Wochen auch noch da sind. Wenn nicht, sind sie sehr wahrscheinlich verstorben. Denn nur die wenigsten werden sich in drei Wochen so erholt haben, dass sie die Intensivstation verlassen konnten. Wenn man diese Entwicklungen betrachtet, sieht man, dass wir schon bald noch mehr schwer erkrankte Covid-Patienten intensivmedizinisch betreuen müssen.
Welche Strategie haben Sie dafür?
Prof. Werner Seeger: Wir können das nur über zwei Mechanismen auffangen, die wir schon in die Wege geleitet haben. Zum einen müssen wir die Level-2-Häuser der Region stärker in die intensivmedizinische Versorgung einbeziehen. Das ist neu. In Gießen ist es zum Beispiel das Evangelische Krankenhaus. Trotzdem werden wir auch am UKGM steigende Zahlen haben. Das wiederum können wir nur auffangen, indem wir unsere Intensivmedizin, die eigentlich für Operationen und andere Krankheitsbilder vorgesehen ist, für Covid-19-Patienten zur Verfügung stellen. Hierzu werden wir das Elektiv-Programm herunterfahren müssen, was wir ansatzweise bereits begonnen haben.
Man hört, es fehlt am UKGM nicht an Betten, aber an Personal?
Prof. Werner Seeger: Ja. Der kritische Faktor ist das Personal. Wir haben in Gießen sehr viele verfügbare intensivmedizinische Betten. Alle zusammen, mit den Spezialeinheiten und der Kinderklinik, weit über 150. Aber wir müssen dort auch Patienten mit Schlaganfall, Hirnblutungen, Herzinfarkt und anderen schwerwiegenden Erkrankungen versorgen. Lebensnotwendige Operationen müssen trotz Pandemie durchgeführt werden. Auch mit Beatmungsgeräten sind wir gut aufgestellt, aber es fehlt das Personal, vorrangig das Intensivpflegepersonal. Man kann nicht mal eben normales Pflegepersonal umschulen, um intensivmedizinisch hoch kompetent zu arbeiten. Das verlangt eine jahrelange Ausbildung. Wir haben mit Schulungen begonnen, aber das dauert lange.
Was tun Sie dann?
Prof. Werner Seeger: Wir haben drei Reaktionsmöglichkeiten. Die eine ist, dass wir Personal mit intensivmedizinischer Ausbildung aus den jeweiligen Funktionsbereichen herausziehen und auf die Intensivstationen nehmen. Dadurch werden aber die Funktionsbereiche heruntergefahren, was auch wieder Engpässe hervorruft. Die zweite ist ein Aufruf an Medizinstudenten mit der Bitte, mitzuarbeiten. Das haben wir getan und es haben sich weit über 100 Studierende gemeldet. Darunter sind sehr viele mit Pflegeausbildung und einige mit intensivmedizinischer Ausbildung. Und die Dritte: Ich bitte alle, die eine Pflegeausbildung haben, insbesondere in der Intensivmedizin, und gegenwärtig nicht arbeiten, zu erwägen, uns in unserer Klinik in dieser kritischen Phase der Pandemie zu unterstützen.
Trifft die Notsituation auch auf Ärzte zu?
Prof. Werner Seeger: Bei Ärzten haben wir noch eher Reserven. Der Pflegermangel ist der begrenzende Faktor. Nicht nur bei uns, sondern bundesweit.
Im Intensivregister wird täglich die Anzahl der freien Betten auf Intensivstationen aufgeführt. Das erweckt dann offenbar eine falsche Sicherheit?
Prof. Werner Seeger: Ja. Es ist ein falsches Bild zu sagen, wie viele Betten es gibt. Denn es hilft nichts, Betten in Hallen zu stellen. Man muss das kompetente ärztliche und Pflegepersonal haben, damit die schwer kranken Patienten überleben können. Am Anfang der Pandemie gab es in New York die Konstellation, dass dort 90 Prozent der Intensivpatienten starben. Das lag daran, dass das System so überlaufen war, dass die Patienten zwar irgendwie irgendwo an ein Beatmungsgerät angeschlossen waren, aber es kein Personal gab, Intensivmedizin auf ausreichendem Niveau zu leisten. Das war ein Grund für die hohen Sterblichkeitsraten. Das müssen wir um jeden Preis vermeiden.
Wie viel Spielraum haben Sie am UKGM noch?
Prof. Werner Seeger: Wir bestücken im Moment mehr als 150 Intensivbetten mit Personal über alle Bereiche. Das ist eine sehr große Zahl. Damit gehören wir in Deutschland zu den Kliniken mit dem größten Intensivbereich . Aber wir sind dennoch dabei zu schauen, welche Reserven wir mobilisieren können. Hierzu gehört die Reduzierung des Elektivprogramms, wenn alle anderen Möglichkeiten erschöpft sind. Das machen wir jedoch nicht ohne Not, denn elektive Operationen zu verschieben, hat auch Folgen. Eine Operation, die heute elektiv sein mag, kann in vier Wochen dringend notwendig sein. Und wer sagt uns, dass es in vier Wochen besser ist? Das heißt: Wir haben auch eine Pflicht, von den elektiven Maßnahmen so viele wie möglich durchzuführen, um unserem Versorgungsauftrag gerecht zu werden.
Bleiben wir beim Personal. Stimmt es, dass am UKGM Mitarbeiter arbeiten, die eigentlich unter Quarantäne stehen würden?
Prof. Werner Seeger: Das ist so. Schon in der ersten Welle wurde dieses Aachener Modell in Absprache mit Gesundheitsämtern praktiziert. Es kam während der ersten Welle dazu, dass man in Aachen, durch die Nähe zu Heinsberg damals besonders betroffen, vor die Wahl gestellt wurde, die Neonatologie wegen Quarantänefällen zu schließen oder das Personal weiterarbeiten zu lassen. Die Schließung hätte schlicht und ergreifend bedeutet, dass die Frühgeborenen dort sterben. Es blieb nichts anderes übrig, als das Personal unter extremen Schutzmaßnahmen weiterarbeiten zu lassen, mit wiederholter Covid-Testung. Das hat funktioniert. Es ist über das Pflegepersonal zu keinen Ansteckungen gekommen. Dieses Modell steht auch jetzt Pate. Wenn wir Pflegekräfte oder Ärzte haben, die einen kritischen Kontakt hatten, das passiert im Moment durch die hohe Inzidenz immer mal, analysieren wir den Risikokontakt und stimmen mit dem Gesundheitsamt ab, ob der Mitarbeiter arbeiten kann.
Ist es so zu weiteren Ansteckungen gekommen?
Prof. Werner Seeger: Glücklicherweise nicht. Die Schutzmaßnahmen sind hocheffektiv. Es wird zudem alle zwei Tage ein Test gemacht. Auch in dem mit den hohen Schutzmaßnahmen durchgeführten intensivmedizinischen Bereich haben wir quasi keine Infektionen des Personals durch einen Arbeitseinsatz. Deswegen ist das Aachener Modell durchaus vernünftig. Wir können nicht auf diese Kräfte verzichten. Wir hatten immerhin schon 150 Mitarbeiter in Quarantäne. Positiv Getestete nehmen wir aber natürlich aus der Patientenversorgung heraus
Vor dem Hintergrund Ihrer Erfahrungen im Klinikalltag: Hätten Sie sich von der Politik schon früher und deutlichere Einschränkungen gewünscht?
Prof. Werner Seeger: Wir sind in einer schwierigen Situation, in der keiner genau weiß, was kommt. Grundsätzlich finde ich, dass wir in Deutschland einen sehr verantwortungsvollen Umgang der Politik mit dieser Situation haben. Man kann natürlich diskutieren, ob die jetzt beschlossenen Einschränkungen besser zwei Wochen früher hätten kommen können, aber schmerzhafte Konsensbildung gehört eben auch zur Demokratie. Ich finde es aber auch vernünftig, die Schulen offen zu lassen. Entscheidend ist sowieso, dass jeder Einzelne die Schutzmaßnahmen umsetzt. Wenn das jeder machen würde, Kontakte reduzieren, Abstand halten, Maske tragen, lüften, dann würden die Zahlen rasch heruntergehen und wir bräuchten darüber hinaus keine weiteren Einschränkungen. Ich denke, in einer solchen Situation kann man von der Politik keine perfekten Schnittmuster erwarten.
Wenn wir über Einschränkungen sprechen: Auch Sie haben Besuche eingeschränkt. Recht spät, oder?
Prof. Werner Seeger: Wir haben lange gewartet, sahen uns aber dazu gezwungen, weil wir eine so hohe Inzidenzlage haben. Besuche zu reduzieren, gehört für mich zu den schlimmen Konsequenzen dieser Pandemie. Man denke nur an die sterbenden Patienten. Mit Einzelfallentscheidungen versuchen wir daher, Härtefälle zu vermeiden.
Härtefall ist ein gutes Stichwort. Virologe Christian Drosten ist mit seiner Aussage über Triage aufgefallen. Fürchten Sie, solche Entscheidungen?
Prof. Werner Seeger: Es ist nicht ausgeschlossen. Leider. Ich würde sehr hoffen, dass es nie passiert. Sagen Sie mal einem 70-Jährigen, wir hätten eine gute Chance Sie zu retten, aber wir haben keinen Intensivbehandlungsplatz. Sie bekommen ein bisschen Sauerstoff und Morphin. Das war’s. Und der Patient kann sich nicht mal verabschieden. Das muss man sich mal vorstellen. Ich wünsche mir, dass ich das nie machen muss. Wir werden alles, wirklich alles daran setzen, dass es bei uns nicht so weit kommt.
Dieses Interview von Marc Schäfer wurde zuerst als „„Es hilft nichts, Betten in Hallen zu stellen“: Arzt mit eindringlicher Warnung“ in der Gießener Allgemeine Zeitung veröffentlicht.